Von Print zu Pixel - was macht das mit dem Akt des Lesens?

Wo soll das alles enden? Was wird aus der Kultur des Lesens und des Schreibens, aus Bibliotheken und Verlagen und Buchhandlungen, kurz: Was wird aus der ganzen Buchkultur, die wir heute noch kennen, wenn "das Digitale" überhand nimmt? Ein kleines Plädoyer für Koexistenz.

Kulturkritisch lässt sich immer gut der Verlust von Kulturtechniken beklagen. Der Untergang des Abendlandes scheint immer näher zu rücken. Beispielsweise ist uns bereits jetzt die Kunst des Briefeschreibens verloren gegangen. Flächendeckend. Mal ein kleiner Selbsttest und Hand aufs Herz: Wann haben Sie den letzten handgeschriebenen Brief erhalten - oder gar versandt? Und unsere Kinder, ach, sie lesen nicht mehr. Sie schauen nur noch auf Bildschirme. Wer weiß, wohin das führt?

   So kann man heran gehen an die nicht zu übersehenden Veränderungen, die das digitale Zeitalter für das Lesen und das Schreiben mit sich bringt. Aber man könnte das alles auch ganz anders betrachten. Dann wäre die Frage anders zu stellen, nämlich: Wie verändern digitale Medien unser Lesen und Schreiben? Denn dass weniger gelesen oder geschrieben wird, das wäre erst einmal empirisch zu überprüfen. Wer heute auf sich hält, hat einen Blog (siehe hier!) und schreibt Briefe oder Artikel für jedermann. Wer keine

 

Zeitung (mehr) liest, wird doch mindestens im Internet Nachrichten lesen. Und wer sich in der großen weiten Welt der Online-Spiele tummelt, kommt ohne lesen zu können nicht weit.

  Lässt sich dieses Lesen vergleichen mit, sagen wir, dem Lesen der ›Odyssee oder von  ›Moby Dick? Kann man dieses neue 'Lesen' vergleichen mit der Kulturtechnik gleichen Namens? Leicht suggestiv solche Fragen, zugegeben. Natürlich ist das etwas anderes. Aber zunächst wäre zu beweisen, dass Homer und Melville heute nicht mehr oder wirklich weniger gelesen werden (mich hält das Interesse am Digitalen davon jedenfalls nicht ab). Massentauglich waren die doch nie, oder? Hat sich das signifikant verändert?

  Trotzdem mag es natürlich etwas anderes sein,  Homer auf dem eBook-Reader zu lesen als in einem dicken Folianten, möglichst noch in Fraktur gedruckt - um mal die Hürden noch ein bisschen zu vermehren.


Fresko aus Pompeji aus dem 1. Jahrhundert nach Christus. Oftmals wird die lesende Frau mit Sappho identifiziert, aber dafür gibt es keinen echten Beleg.

   Aber was genau wird da anders? Darüber habe ich dieser Tage online (!) einen sehr schönen Artikel von Kevin Kelly gefunden, etliche Jahre, nachdem er im Internet veröffentlicht wurde. Kellys Artikel (von 2010, aber aktuell wie je) auf Smithsonian.com fragt: "Während sich Bildschirme immer mehr verbreiten und die Menschen von Print zu Pixel wechseln, wie verändert das den Akt des Lesens?"

   Bis vor wenigen Jahren, schreibt er, waren wir "people of the book", nun werden wir immer schneller zu "people of the screen". Aber Kelly jammert dann nicht und beklagt den Verlust. Sondern er beschreibt, was sich ändert.

  Ja, das Lesen auf dem Screen ist nicht dasselbe wie das Lesen eines Buches oder das Lesen einer Zeitung. Aber in mancher Hinsicht ist es mehr. Screens verbinden Worte mit visuellen Medien, wie das die Printmedien niemals könnten. Screens bieten die Möglichkeit, sofort und überall zu recherchieren, nachzufragen, weil sie unendliche Verbindungen bereitstellen. Screens sind überall verfügbar, jederzeit. Sie "lesen" zu können, erfordert allerdings 

neue Formen von Lesefähigkeit, unter anderem die Entzifferung einer Vielzahl von Symbolen, die es offline nicht gibt oder braucht, die Fähigkeit zur Selektion, zur Trennung von Spreu und Weizen. Doch hindert uns dies daran, auch weiterhin schöne Bücher zu lesen, an besonderen Plätzen, zu bewusst ausgewählten Zeiten? Wird das aussterben?

 Für die Zukunft der Kulturtechnik des Schreibens mit der Hand wäre ich nicht so sicher. Das wird möglicherweise obsolet Aber klassische Lesekultur, die wird es weiter geben. Die lohnt es zu fördern und anzubieten, wo immer möglich. Neben dem Digitalen. Aber nicht im Sinne eines Kulturkampfes. Da gäbe es ganz andere Fronten, die zu eröffnen wären. Etwa bei der künftigen Rolle künstlicher Intelligenz. Wenn wir den Bots das Schreiben und danach das Denken überlassen, stecken wir wirklich tief im Sumpf. Aber danach sieht es wirklich nicht aus, wenn sich auch wunderbare Dystopie darüber verfassen ließen.