Wenn es nicht so traurig wäre, könnte man bewundernd feststellen: Jevgenij Samjatin hatte es 1920 mit seinem Roman ›Wir‹ tatsächlich geschafft, die totalitären Herrschaftskatastrophen des 20. Jahrhunderts schreibend vorwegzunehmen. Leider hatte er wohl auch sein eigenes Schicksal damit besiegelt.
Natürlich konnte Samjatin mit dem Wissen von 1920 nicht annähernd ermessen, wie treffsicher und wie folgenreich sein Roman ›Wir‹ einmal sein würde. 1920: Das war gerade drei Jahre nach der Oktoberrevolution; der darauf folgende russische Bürgerkrieg ging erst zu Ende. 1920: Da hatte Stalin es noch längst nicht an die Spitze der entstehenden Sowjetunion geschafft. Und Hitler war erst dabei, sich einen Namen als Volksredner zu machen.
Der ungleich bekanntere dystopische Roman ›Brave New World‹ (deutsch: ›Schöne neue Welt‹) von Aldous Huxley erschien 1932, George Orwells ›1984‹ sogar erst 1949. Vier Jahre später kam Ray Bradbury mit ›Fahrenheit 451‹. Sie alle verdanken Samjatins ›Wir‹ so einiges. Dass Schriftsteller sich gegenseitig anregen, nachahmen, persiflieren, zitieren, gehört gewissermaßen zum Handwerk. Sagen wir, es gibt Parallelen zwischen ›Wir‹, ›1984‹ und ›Schöne neue Welt‹. Diese Parallelen sind tatsächlich unübersehbar, wenn man erst einmal angefangen hat zu suchen. Samjatin, Huxley und Orwell sind in einem Atemzug zu nennen, sie bieten die wesentlichen Bezugspunkte, wenn es um die Entwicklung literarischer Anti-Utopien geht.
Orwell veröffentlichte sein Buch nach dem Ende des III. Reiches, Huxley seines in einer Zeit, in der die Begleiterscheinungen einer totalitären Diktatur moderner Prägung in der Sowjetunion bereits studiert werden konnten: Führerkult, Spitzelwesen, Schauprozesse, gezielte Verfälschungen der Geschichte und der Sprache, um nur einige zu nennen. Das war alles längst Realität geworden.
Samjatin dagegen schrieb viel früher. 1920 stand das alles schon in seinem Buch, wenn er es auch nicht veröffentlichen konnte. Damit hätte er jeden Erfolg verdient gehabt, zumal er der Erste war, der so etwas schrieb.
»Ich habe Angst, dass wir keine wirkliche Literatur haben werden,
solange man das russische Volk
als ein Kind ansieht,
das man behüten muss.«
Jevgenij Iwanowitsch Samjatin hatte ›nur‹ das Pech, unter einer Regierung zu leben, die ihn mit einem drakonischen Verbot zu publizieren belegte. Dann kamen die 30er, dann die 40er Jahre (da lebte Samjatin schon nicht mehr), mit Terror, Krieg und Nachkriegszeit. Und danach waren er und sein Roman ›Wir‹ erst einmal verschüttet und vergessen, wenn denn überhaupt schon eine breitere Wahrnehmung eingesetzt hatte.
(Auszug aus meinem Vorwort zur Neuausgabe von Samjatins Roman ›Wir‹)
Wir
Utopischer Roman von Jevgenij I. Samjatin
220 Seiten, 14, - Euro
ISBN 978-3-946223-11-5 (Softcov.)
als eBook ISBN 978-3-946223-12-2
erschienen in der Ganymed Edition